Viele Gremien, wenig Zivilgesellschaft
Antonio Madariaga
Direktor der Korporation Viva la ciudadanía
Der Zugang vieler sozialer Organisationen zu den Vereinbarungen in Havanna ist limitiert, wenn nicht sogar ohne jegliche Beachtung. Oftmals basiert dies jedoch unserer Ansicht nach auf völlig falschen Annahmen. Die erste ist, dass die Verhandlungen zur Beendigung des bewaffneten Konflikts nur die Regierung und die FARC, jedoch in keiner Weise diese Organisationen betreffen. Die zweite ist, dass die Agenda in Havanna durch ihre Begrenztheit keine große Bedeutung für die sogenannte „historische Agenda“ der sozialen Bewegungen einnimmt.
Auch wenn der gesunde Menschenverstand besagt, wie hier auch beschrieben, dass die Verhandlungen in Havanna das Ziel haben, den bewaffneten Konflikt zu beenden, die Konstruktion des Friedens über die Vereinbarungen hinaus geht und diese immer unvollständig sein werden, müssen wir die Aspekte, bei denen die Medizin schlimmer sein kann als die Krankheit, einer genaueren Betrachtung unterziehen und wenn die Perspektiven der Partizipation der Zivilgesellschaft auch größer sein könnten, so ist es notwendig, zu betonen, dass die Verhandlungen in Havanna nicht mit dem Unterschreiben der endgültigen Vereinbarungen beendet sind.
Die Phasen der Durchführung eines Referendums, der Reglementierung, rechtlichen und institutionellen Anpassung und Implementierung stellen einen integralen Bestandteil der Vereinbarungen dar, der sich nicht von den Verhandlungen selbst trennen lässt.
Daher ist die genauere Beschäftigung damit, was das tatsächlich bedeutet, unumgänglich, auch mit dem Risiko, nicht politisch korrekt zu sein und Unbehagen hervorzurufen. Die bislang erreichten Vereinbarungen beinhalten alle möglichen Aspekte, die verschiedene Punkte des institutionellen, politischen und sozialen Lebens in Kolumbien berühren
Die Vereinbarung, “Hacia un nuevo campo colombiano: Reforma Rural Integral” (Für eine erneuerte ländliche Region: integrale rurale Reform), kündigt durch den Titel einen komplexen, mittelfristigen Prozess an. Wenn die in dieser Vereinbarung enthaltenen Aspekte benannt werden, beginnt sich ihr Ausmaß zu erschließen. Es reicht von Problematiken wie dem Zugang zu und der Nutzung von Boden, unproduktiven Ländereien, Grundbucheintragung und Legalisierung von Landbesitz, landwirtschaftliche Anbauflächen, „zonas de reserva campesina“ (Schutzzonen für Kleinbäuerliche), „desarrollo con enfoque territorial“ (ländliche Entwicklung mit territorialem Fokus) , Infrastruktur und Nutzbarmachung von Boden, technischer Unterstützung, Subvention, Kredite, Markt, Formalisierung von Arbeit, öffentlicher Politik in Ernährungsfragen, bis hin zu Aspekten wie Entschädigung und Rückübertragung von Land, der Versorgung mit öffentlichen Gütern wie Trinkwasser, Infrastruktur bezüglich Bildung, Wege und Straßen, etc.
Generell handelt es sich um eine Vereinbarung, deren Ziel darin besteht, die kleinbäuerliche Ökonomie in ihrer Gesamtheit zu revitalisieren und die Bresche zwischen Stadt und Land zu verringern. Dies impliziert die Schaffung eines Systems zur Überwachung und dem Monitorring der Umsetzung der entsprechenden Gesetze, öffentlichen Politik und von Programmen bezüglich ruraler und Agrarpolitik mit einer Menschenrechtsperspektive, unter anderem den “Plan Nacional de Desarrollo”, das “Ley Forestal” (Forstgesetzgebung), das Gesetz 975, das “Ley de Desarrollo Rural” (Gesetz zur ländlichen Entwicklung) und das Gesetz “ZIDRES”. Es wird notwendig werden, eine effiziente Gesetzgebung und Rechtsprechung für Agrarfragen zu schaffen, die in angemessener Art und Weise in der Lage ist, die Streits und Konflikte um Land und Boden zu lösen. Für das Funktionieren des “Fondo de Tierras” (Landfonds), der in dem Teilabkommen enthalten ist, ist es notwendig, eine Bestandsaufnahme von brachliegendem Land, umkämpftem Land, illegal eingenommenem Land, verlassenem Land und Land, von dem die Menschen gewaltsam vertrieben wurden, durchzuführen. Allein schon die hier erwähnten Themen, und es gibt noch viel mehr in dem Teilabkommen des ersten Punktes, stellen eine große Chance für die sozialen Bewegungen dar, insbesondere für diejenigen, die sich mit Agrarfragen beschäftigen. Sie dürfen nicht mit Geringschätzung betrachtet oder ignoriert werden, denn das würde dazu führen, dass den Forderungen einer verarmten ländlichen Region entgegengesetzte Interessen diese Angelegenheiten dominieren
In Bezug auf die politische und gesellschaftliche Partizipation stechen folgende Aspekte hervor; die demokratische Erweiterung für die Entstehung neuer Kräfte im politischen Szenarium und die Stärkung des politischen Pluralismus, die Ächtung von Gewalt als Methode des politischen Handelns, die Anerkennung ebenso der Opposition, die die Parteien und politischen Bewegungen ausüben, wie der Aktionsformen der sozialen Organisationen und Bewegungen, was die Einsetzung einer Kommission für den Dialog zwischen der Regierung und den sozialen Organisationen und Bewegungen einschließt; eine Unterstützung unabhängiger community-basierter Kommunikationsmittel; eine Annäherung an die Versöhnung und Friedenskultur durch die Schaffung eines „Consejo Nacional para la Reconciliación y la Convivencia” (Nationaler Rat für Versöhnung und Zusammenleben) und einer Katedra politischer Kultur für Versöhnung und Frieden; der Kampf gegen Korruption und die Förderung zivilgesellschaftlicher Kontrollmechanismen, eine partizipative Planung und Haushaltsplanung, die Förderung einer höheren Wahlbeteiligung und einer demokratischen politischen Kultur, die Einsetzung von ”Circunscripciones Transitorias Especiales de Paz” und schließlich die Partizipation der Frauen und der Geschlechterfragenansatz in den Vereinbarungen. Dies alles sind Themen von großer Bedeutung, die große Anstrengungen in der institutionellen Anpassung und bei Fragen der Pädagogik und gesellschaftlichen Mobilisierung bedürfen. Generell zielt das Abkommen auf die Ausweitung und Vertiefung der Demokratie ab, was als Begleiterscheinung eine starke Bürgerschaft impliziert. Wie ist es möglich, dass die sozialen Organisationen eine solche Agenda als bedeutungslos auffassen oder als einer „historischen Agenda” der sozialen Bewegungen entgegengesetzt?
Bezüglich des Punktes der Drogenproblematik zentriert sich das Abkommen auf die Substitution und Ausmerzung des Drogenanbaus, basierend auf der freiwilligen Substitution derselben, und der Schaffung von Bedingungen des Wohlergehens derer, deren Lebensunterhalt von diesen Pflanzungen abhängt. Dazu gehören ein landesweites „Programa de Sustitución de Cultivos y Desarrollo Alternativo“ (Programm zur Substitution des Drogenanbaus und einer alternativen Entwicklung) in Abstimmung mit der vereinbarten „Reforma Rural Integral” (rurale integrale Reform); ein “Plan de Atención Inmediata y Desarrollo de Proyectos Productivos” (Plan zur unmittelbaren Unterstützung und Entwicklung alternativer produktiver Projekte) mit Fokus auf Menschenrechten und dem öffentlichen Gesundheitswesen für das Problem des Konsums mit Differenz- und Geschlechterfokus, der seinerseits ein “Programa Nacional de Intervención Integral frente al Consumo de Drogas Ilícitas” (nationales Programm zur integralen Intervention des Konsums illegaler Drogen) einschließt. Im Vergleich mit den anderen Punkten hat dieser Punkt der Vereinbarungen vielleicht ein relativ niedriges Niveau. Er sieht sich außerdem vor die Herausforderung gestellt, im Widerspruch zu internationalen Abkommen zu stehen und wird vom Thema der Auslieferung berührt. Handelt es sich hier um ein Abkommen geringerer Gewichtung?
Andererseits sieht ein Teilabkommen die Einrichtung der „Comisión de Esclarecimiento de la Verdad, la Convivencia y la No Repetición“ (Kommission zur Klärung der Wahrheit, des Zusammenlebens und der Nichtwiederholung), das eine Reihe von Themen enthält, die die Kommission zur Auswahl der 11 Kommissionäre, der Methodologie für die Auswahl dieser Kommissionäre, der Frage des Zugangs zu Archiven und der Bewahrung derselben, der Kommission für die Suche nach den Verschwundenen, der Anreize für das Auftreten der Kommission, der Methoden und Strategien für die Untersuchung vor Ort, der Beziehung zu der Struktur der „Jurisdicción Especial para la Paz“ (besonderen Gerichtsbarkeit für den Frieden) im Rahmen des „Sistema Integral de Verdad, Justicia y Reparación“ (Integrales System von Wahrheit, Gerechtigkeit, und Wiedergutmachung) beinhaltet und allgemein ein breites Mandat, das die Klärung und Förderung der Anerkennung der Praktiken und Fakten die im Konflikt schwere Menschenrechtsverletzungen und schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (HVR) darstellen, die menschliche und gesellschaftliche Wirkung auf die Gesellschaft betrachtend; und den historischen Kontext die Ursprünge und multiplen Ursachen des bewaffneten Konflikts und die Angelegenheiten, die dazu beigetragen haben, ihn aufrecht zu erhalten und zu intensivieren, bewertend. Können die sozialen Bewegungen darauf bestehen, dass diese Kommission bis zur Kolonialzeit zurückgehen soll oder noch schlimmer, dass parallele Anstrengungen mittels weiterer Wahrheitskommissionen unternommen oder beibehalten werden unter dem Vorwand: „die Wahrheit ist ein umstrittenes Feld“?
In einer anderen Dimension der Elemente, die sich in dem integralen System der Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, der speziellen Gerichtsbarkeit für den Frieden befinden, stechen äußerst suggestive Orientierungsprinzipien und Kriterien wie vollständige und detaillierte Wahrheit und keinerlei Straflosigkeit; eine äußerst komplexe Annäherung an eine Kombination von restorativer und retributiver Justiz mit unterschiedlichen Niveaus und Sälen, einschließlich eines Saals für die Revision von Prozessen und Urteilen; ein System der Ermittlung und Urteilsfindung, das völlig neu und unabhängig von der gewöhnlichen Justiz ist, hervor. Ein ausgefeiltes und sehr interessantes System.
Unserer Ansicht nach repräsentieren die besprochenen Punkte eine sehr breite und komplexe Agenda, an der teilzunehmen für die sozialen Organisationen äußerst sinnvoll und notwendig ist.
Daher erscheint es vollkommen unverständlich, dass man immer wieder zu hören bekommt, dass „unsere Bedürfnisse nicht berücksichtigt wurden, oder „unsere Beteiligung war unzureichend“ oder in diesem Punkt „haben wir weitreichendere Forderungen“ und ein langes Rosenkranzgebet der Kritik, die die Abkommen delegitimiert und es unmöglich macht, die Erklärungen vieler sozialer Organisationen wie „wir unterstützen die Verhandlungen“ oder „wir wollen den Frieden“ zu artikulieren und einen Beitrag zum Prozess der Durchführung eines Referendums und der erfolgreichen Umsetzung der Abkommen zu leisten.
Zusammengefasst, trotz des Ausmaßes der Herausforderungen und Chancen, die die Vereinbarungen beinhalten in Bezug auf die eigenen Forderungen, die Interessen der Gremien und nicht die allgemeinen, hinsichtlich der tatsächlichen Erlangung des wichtigsten der öffentlichen Güter, Frieden, zeigt sich für uns, dass in vielen sozialen Organisationen viele Gremien existieren und wenig Zivilgesellschaft.
Edición 484 – Semana del 26 de Febrero al 3 de Marzo de 2016